Dienstag, 13. Dezember 2022

Der Entscheid des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

 

Mit seiner Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof wollte Lehrer H. wissen, ob dieses Gericht ebenfalls in den Händen von Verfassungsfeinden ist. Richter Georgios A. Serghides ging in keinem einzigen Satz auf die von Dr. David Dürr vorgebrachten Argumente ein. Hier also noch einmal die Fakten: Der Beschwerdeführer wurde mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt vom 24. August 2021 mit einer Busse von CHF100 belegt, weil er Abstandvorschriften der damaligen Covid 19-Massnahmen verletzt habe. Diese Busse als solche steht vorliegend nicht zur Diskussion, sondern die in der Folge stattgefundenen Verletzungen der dem Beschwerdeführer zustehenden Verfahrensrechte, namentlich diejenigen gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Gegen den erwähnten Strafbefehl erhob der Beschwerdeführer am 25. August 2021 Einsprache, womit es zur gerichtlichen Beurteilung hätte kommen sollen. Eine solche wurde zwar angesetzt, nämlich mit einer Verhandlung des Strafgerichts Basel-Stadt auf den 20. Dezember 2021. Als der Beschwerdeführer aber pünktlich zum Termin erschien, wurde er vom Gerichtspräsidenten zurückgewiesen, weil es der Beschwerdeführer ablehnte, die für die Gerichtsverhandlung verlangte Schutzmaske zu tragen. Ein ärztlicher Bericht, den der Beschwerdeführer vorlegte, um eine Dispensation von der Maskenpflicht zu unterlegen, wurde als zu alt und zu unspezifisch zurückgewiesen. Auch will der Strafgerichtspräsident – wie er im Nachhinein vorgibt – dem Beschwerdeführer angedroht haben, eine Weigerung des Maskentragens habe die gleiche Konsequenz wie ein Rückzug der Einsprache, das heisst den Verlust des Rechts auf eine gerichtliche Behandlung seines Falles. Als der Beschwerdeführer gleichwohl keine Maske anlegte, wies man ihn weg und es fand keine Gerichtsverhandlung statt. Mit Verfügung vom 20. Dezember 2021 verfügte der Strafgerichtspräsident, es gelte die Einsprache des Beschwerdeführers gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO als zurückgezogen. Ferner sei eine Verfahrensgebühr von CHF100 zu entrichten.

Hiergegen wiederum rekurrierte der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 23. Dezember 2021 ans Appellationsgericht Basel-Stadt. Auf Veranlassung desselben nahm der Strafgerichtspräsident mit Schreiben vom 4. Januar 2022 Stellung, wozu sich der Beschwerdeführer nochmals mit Eingabe vom 1. Februar 2022 vernehmen liess. Am 14. April 2022 entschied das Appellationsgericht dahin, die Beschwerde abzuweisen. Ferner sei eine Verfahrensgebühr von CHF 800 zu entrichten. Hiergegen wiederum wandte sich der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 14. April 2022 ans Schweizerische Bundesgericht. Dieses trat indes auf die Beschwerde nicht ein und verfügte zudem eine Gerichtsgebühr von CHF 500.

Im vorliegenden Fall wurden Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt. Diese Bestimmung gibt jeder Person das Recht, «... dass ... über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem ... auf Gesetz beruhenden Gericht... in einem fairen Verfahren ... verhandelt wird. ...». So wurde dem Beschwerdeführer den Zugang zur gerichtlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Beurteilung verweigert. Die Busse, um die es hier vorliegend geht, wurde ihm zunächst ohne gerichtliches Verfahren auferlegt, nämlich mittels eines Strafbefehls durch die Anklagebehörde, die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt. Zumal dieses Verfahren dem auch in der Schweiz geltenden Grundsatz der richterlichen Beurteilung widersprechen würde, stand dem Gebüssten die Möglichkeit zu, Einsprache zu erheben, womit es zur gerichtlichen Beurteilung kommen musste. Davon machte er Gebrauch, weshalb er dann zur Gerichtsverhandlung des Strafgerichts Basel-Stadt vorgeladen wurde.
Erste Instanz, Strafgericht Basel-Stadt
Dort aber wurde ihm der Zugang verweigert. Er hatte sich am 20. Dezember 2021 pünktlich zur vorgeladenen Zeit am vorgeladenen Ort zur Gerichtsverhandlung eingefunden, wurde jedoch nicht ins Gerichtsgebäude eingelassen. Das Strafgericht stellte daraufhin in einer Verfügung vom 20. Dezember 2021 wahrheitswidrig fest, der Beschwerdeführer sei unentschuldigt ferngeblieben, weshalb seine Einsprache gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO als zurückgezogen gelte.
Die erwähnte Bestimmung von Art. 356 Abs. 4 StPO lautet wie folgt:

«Bleibt die Einsprache erhebende Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fern und lässt sie sich auch nicht vertreten, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen.»

Mit anderen Worten hatte der Strafgerichtspräsident die erwähnte Bestimmung auf einen Sachverhalt angewendet, der vorliegend gar nicht zutraf. Der Beschwerdeführer war nicht unentschuldigt ferngeblieben, sondern pünktlich erschienen. Als der Strafgerichtspräsident später gegenüber der Appellationsinstanz Stellung nehmen musste, gab er denn auch zu, dass der Beschwerdeführer rechtzeitig zur Hauptverhandlung am Strafgericht erschienen war, allerdings sei er nicht bereit gewesen, eine Hygienemaske anzuziehen. Mit anderen Worten gab der Strafgerichtspräsident zu, dass er den Tatbestand von Art. 356 Abs. 4 StPO auf einen nicht erfassten Sachverhalt angewendet hatte. Die Auswirkung von Art. 356 Abs. 4 StPO auf die prozessualen Rechte des Angeklagten sind gravierend; sie bewirken nicht weniger als den Verlust des Rechts, bei einer strafrechtlichen Anklage von einem Gericht angehört und beurteilt zu werden. Sie stellt den Einsprecher so, wie wenn er seine Einsprache gegen den Strafbefehl zurückgezogen hätte, bzw. die Bestimmung fingiert einen Rückzug dann, wenn der Einsprecher unentschuldigt fernbleibt. Angesichts dieser gravierenden Konsequenzen darf Art. 356 Abs. 4 StPO nur höchst restriktiv angewendet werden. Eine Auslegung über seinen Wortlaut hinaus würde den Einsprecher ohne genügende Gesetzesgrundlage eines fundamentalen Verfahrensrechts berauben. Genau dies ist hier vorliegend aber geschehen, womit das Recht auf gerichtlichen Zugang gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde.

In der erwähnten Stellungnahme an das Appellationsgericht behauptete der Strafgerichtspräsident, er habe dem (pünktlich erschienenen) Beschwerdeführer bedeutet, er müsse eine Hygienemaske tragen, worauf ihm dieser einen psychiatrischen Arztbericht vorgelegt habe, aufgrund dessen er von einer Hygienemaske befreit sei. Dieser Bericht sei aber mehr als 15 Jahre alt gewesen und habe sich nicht speziell zum Maskentragen geäussert, weshalb er ihn zurückgewiesen habe. Er habe dann dem Beschwerdeführer angedroht, sein Verhalten als unentschuldigtes Fernbleiben umzuqualifizieren, falls er nicht die Maske anziehe. Ob er diese Drohung tatsächlich ausgesprochen hat, ist nicht belegt, weshalb dies als nachträgliche Schutzbehauptung des Strafgerichtspräsidenten zu qualifizieren ist.
Und sollt er diese Warnung noch ausgesprochen haben, so würde dies nichts daran ändern, dass die angedrohte Folge, nämlich die Fiktion des Einspracherückzugs, der gesetzlichen Grundlage entbehrt. Was im Gesetz nicht vorgesehen ist, kann der Strafgerichtspräsident nicht von sich aus anordnen; und dies erst recht, wenn es um so gravierende Eingriffe in die von Art. 6 EMRK geschützten Verfahrensrechte geht.

Stattdessen hätte die Möglichkeit bestanden, einen Weg zu finden, welcher Art. 6 EMRK entsprochen hätte.
• So hätte der Strafgerichtspräsident dem Beschwerdeführer eine Frist ansetzen können, innert der er sich ein aktuelles und ausdrücklich auf die Maskenpflicht ausgerichtetes ärztliches Attest besorgen könne.
• Denkbar wäre auch gewesen, die Gerichtsverhandlung zu sistieren, bis die Maskenpflicht vor Gericht aus epidemiologischen Gründen wieder aufgehoben ist.
• Denkbar wären auch bauliche oder organisatorische Massnahmen gewesen, um die gerichtliche Behandlung auch ohne Schutzmaske durchzuführen, wie etwa das Anbringen zusätzlicher Plexiglaswände oder die Durchführung der Gerichtsverhandlung via Video-Konferenz.

Nichts in der Art wurde aber in Betracht gezogen, geschweige denn angeordnet. Damit wurde das Recht des Beschwerdeführers auf eine gerichtliche Behandlung dieser strafrechtlichen Anklage und damit Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.

Zweite Instanz, Appellationsgericht Basel-Stadt
Aus diesem Grund rekurrierte der Beschwerdeführer an die nächsthöhere kantonale Instanz, das Appellationsgericht Basel-Stadt. In seiner Beschwerde vom 23. Dezember 2021 wies er ausdrücklich darauf hin, dass er die Einsprache nicht zurückgezogen habe, sondern pünktlich zum Termin erschienen sei in der Hoffnung auf eine korrekt und respektvoll geführte Gerichtsverhandlung. Stattdessen habe der Strafgerichtspräsident die «Einsprache als zurückgezogen erklärt», was «eine gravierende Rechtsverletzung» darstelle; und weiter «Der Richter hat mit seinen Handlungen sein Ermessen aus meiner Sicht massiv überschritten und missbraucht und damit Rechtsverweigerung ... begangen». Damit brachte der Beschwerdeführer – der damals nicht anwaltlich vertreten war – nichts anderes als die vorstehend dargelegte Verletzung der Verfahrensrechte gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Ausdruck.

Das Appellationsgericht ging auf das Thema der umstrittenen Rückzugsfiktion durchaus ein, jedoch wird in der betreffenden Passage Ziff. 3.2 des Entscheids vom 14. März 2022 die fehlende gesetzliche Grundlage für eine Ausweitung des gesetzlichen Tatbestands mit keinem Wort behandelt. Es werden zwar Gründe erörtert, unter denen von einer Maskenpflicht hätte dispensiert werden können; auch dass die vom Beschwerdeführer angeführten Gründe nicht tauglich gewesen seien. Es wird aber nicht thematisiert, dass der Tatbestand von Art. 356 Abs. 4 StPO den vorliegenden Sachverhalt gar nicht umfasst beziehungsweise weshalb der hier tatsächlich vorliegende Sachverhalt gleichwohl dazu führe, den Beschwerdeführer um seine Verfahrensrechte zu bringen.

Damit hat sich auch das Appellationsgericht über Art. 6 Abs. 1 EMRK hinweggesetzt bzw. dieses Bestimmung verletzt.

Dritte Instanz, Schweizerisches Bundesgericht
Als der Beschwerdeführer eben deshalb an die höchste Gerichtsinstanz der Schweiz gelangte, wurde erneut eine Hürde errichtet, nämlich die Bezahlung eines Vorschusses von CHF 800.
Angesichts des Umstandes, dass der Beschwerdeführer bis dahin noch immer nicht zu einer gerichtlichen Behandlung seines Falles gelangt war, jedoch schon in erster Instanz eine Gebühr von CHF 100 und in zweiter Instanz eine solche von CHF 800 auferlegt bekommen hatte, war es für ihn nicht mehr zumutbar, als nächstes gleich nochmals eine Gebühr zu entrichten. Seit er am 20. Dezember 2021 pünktlich zum Gerichtstermin erschien, um seinen Fall vor einem unabhängigen Richter behandeln zu lassen, stiess er stets nur auf Abweisung; und dies erst noch mit dem geradezu zynischen Argument, er sei unentschuldigt nicht erschienen!
Wenn nun angesichts dessen auch die oberste Gerichtsinstanz als erstes bloss wieder eine Hürde aufbaut, nämlich die Bezahlung eines Vorschusses, so kommt dies im Ergebnis bloss wieder auf ein Fernhalten von gerichtlicher Beurteilung dieses Falles hinaus; und damit wiederum auf eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. 

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