Freitag, 31. März 2023

Waaghof - das Untersuchungsgefängnis von Basel-Stadt

 

Es gibt Bilder, die einem bleiben. Die auch Wochen, Monate, Jahre später wieder aufflackern, plötzlich und voller Details, als hätten sie sich tief in alle Schichten des Bewusstseins gebrannt. Manchmal, weil die Bilder von so herausragender Schönheit sind. Meistens aber, weil sie unerträglich sind.

So wie diese Bilder.

Sie stammen von den Überwachungskameras einer Sicherheitszelle im Untersuchungsgefängnis Waaghof in Basel. Sie zeigen einen langen, schmalen Raum, weisse Keramikplatten an den Wänden, am einen Ende eine Dusche und eine Toilette, daneben eine schwere Metalltür. Am anderen Ende ein Fenster und ein Bett. Zwei Kameras zeichnen auf.

Die Frau im Bild hat aufgehört zu schreien. Sie schlägt nicht mehr um sich, atmet ruhig. Liegt nur noch da, auf der grünen Matratze aus Plastik, und starrt an die Decke. Den grauen Gefängnissweater mit der Nummer 14 hat sie ausgezogen, ihr Oberkörper ist nackt.

Sie sitzt auf. Bindet die schwarzen Locken zurück und schnürt sich das Oberteil um den Hals. Zieht zu. Legt sich wieder hin. Zieht die Decke über den Kopf. Zieht sie wieder weg. Starrt die Wand an.

Eine halbe Stunde geht das so.

Dann, um 12.33 Uhr, steht die Frau auf und erhängt sich mit dem Ärmel des Traineroberteils am Fensterknauf.

Die Überwachungskamera filmt jedes Detail, zwei Minuten lang, bis die Frau regungslos liegen bleibt; das Gesicht und die Brust in die Zimmerecke gepresst, halb am Boden liegend, den Rücken durchgedrückt, die Beine nach hinten gestreckt.

Mehr als fünf Minuten vergehen, bis drei Aufseher in die Zelle treten. Zwei schneiden das Kleidungsstück durch, einer spritzt der Frau Wasser ins Gesicht. Ein Aufseher verlässt den Raum. Die beiden anderen folgen kurz danach.

Eine Aufseherin tritt ein. Sie zieht der Frau die Hose aus. Jetzt liegt sie flach auf dem Bauch, das Gesicht noch immer in die Ecke gepresst. Die Aufseherin geht. Die Metalltür fällt ins Schloss. Die Frau bleibt zurück. Alleine. Regungslos.

«Wir sollten den Notarzt haben, 144, und eine Polizeipatrouille. Es geht um einen möglichen versuchten Suizid.»

– Der Notruf um 12.50 Uhr

Es sind jetzt zehn Minuten vergangen, seit sich die Frau am Fensterknauf erdrosselt hat, einem mondförmigen Griff aus Metall.

Es dauert noch mal zehn Minuten, bis die Aufseherin mit zwei Kollegen zurückkommt und der Frau an den Hals greift, 12.53 Uhr, zum ersten Mal überprüft jemand die Lebenszeichen, 13 Minuten nachdem die Aufseher den Raum erstmals betreten haben.

Sie drehen die bewusstlose Frau auf den Rücken. Stehen einen Moment um sie herum. Gehen. Kommen wieder.

12.50 Uhr, Notruf: «Wir sollten den Notarzt haben, 144, und eine Polizeipatrouille. Es geht um einen möglichen versuchten Suizid.» Die Einsatzzentrale der Kantonspolizei will den Anrufer an die Sanität weiterleiten, aber der winkt ab. «Nein, einfach schicken», sagt der Anrufer, einer der Gefängnisaufseher*innen, die die bewusstlose Frau gefunden haben und dabei waren, wie sie vom Strang geschnitten wurde. «Ich kann nicht mehr sagen, als ich dir gerade erzählt habe.»

12.55 Uhr, Herzrhythmusmassage, 22 Minuten nach Beginn der Strangulation.

Um 13.04 Uhr treffen die Notärzt*innen im Untersuchungsgefängnis Waaghof ein. Für die Frau, die entblösst am Boden liegt und seit einer halben Stunde keine Regung mehr zeigt, kommt jede Hilfe zu spät.

Zwei Tage danach, am 14. Juni 2018 um 11.03 Uhr, stirbt sie auf der Intensivstation des Universitätsspitals Basel an den Folgen eines Gehirnversagens durch Sauerstoffmangel, ohne je wieder das Bewusstsein erlangt zu haben.

Wer was wann genau tat oder unterliess – das ist seit Sommer 2018 Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen und mehrerer Recherchen in verschiedenen Medien (BaZbzBlick20 MinutenWOZ). Im August 2021 mussten sich drei Aufseher und eine Aufseherin in Basel vor Gericht verantworten. Nach viertägigem Prozess wurden sie vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung und Aussetzung freigesprochen. Zwar hätten die vier Beschuldigten die Sorgfaltspflicht sehr wohl verletzt (und müssen deshalb einen Teil der Verfahrenskosten tragen), doch der zwingende «hypothetische Kausalzusammenhang» sei nicht erstellt – sprich: Man könne nicht mit Sicherheit sagen, dass die Frau überlebt hätte, wenn die Aufseher*innen sie nicht 15 Minuten lang hätten liegen lassen.

Der Gerichtsmediziner sagte dazu vor Gericht aus, dass sich nicht mit Sicherheit sagen liesse, ob die Frau jemals wieder aufgewacht wäre, nachdem es bereits mehr als fünf Minuten gedauert hatte, bis man sie in der überwachten Sicherheitszelle entdeckte. «Zwei, drei Minuten länger (am Strang, Anm. der Red.) und sie wäre vermutlich tot gewesen.»

Gegen einen fünften Angestellten, der im Auftrag einer privaten Sicherheitsfirma für das Gefängnis tätig war, wurde keine Anklage erhoben: Er hätte die Zelle via Bildschirm überwachen sollen und bemerkte über fünf Minuten lang nicht, dass die Insassin im Begriff war, sich zu erhängen. Grund für die Nicht-Anklage: Der Angestellte sei «auch noch mit anderen Aufgaben» beschäftigt gewesen.

Die Aufarbeitung dieses Todesfalls ist damit längst nicht abgeschlossen, die zweitinstanzliche Verhandlung soll im Laufe dieses Jahres geführt werden.

Bajour und die «Republik» haben sich die Untersuchungsakten dieses Falls besorgt, sie studiert und die Geschehnisse rekonstruiert. Videoaufnahmen gesichtet, Polizeirapporte untersucht, Einvernahmen gelesen und mit Angehörigen, Freund*innen und Bekannten der Verstorbenen gesprochen.

Und je genauer wir nachzuvollziehen versuchten, wie es so weit kommen konnte, dass sich am 12. Juni 2018 eine junge Frau in einer Zelle des Basler Untersuchungsgefängnisses Waaghof das Leben nahm, desto unerträglicher wurde das Bild und desto klarer die Tatsache, dass die vier Aufseher*innen, die der Erstickenden 15 Minuten lang nicht halfen, bei weitem nicht die Einzigen sind, die sich im Zusammenhang mit dem Tod der 29-jährigen Tamilin falsch verhalten haben.

Kowsika.

Ihr Name war Kowsika.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen